G. Schwedler: Damnatio memoriae im frühen Mittelalter

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Titel
Vergessen, Verändern, Verschweigen. Damnatio memoriae im frühen Mittelalter


Autor(en)
Schwedler, Gerald
Reihe
Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Wien 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
532 S.
von
Hans-Joachim Schmidt, Département d'histoire médiévale et moderne et sciences auxiliaires de l'histoire, Université de Fribourg

Das Verfahren der damnatio memoriae wurde im antiken Römischen Kaiserreich politisch eingesetzt, um sowohl konkurrierende Kaiserprätendenten zu bekämpfen als auch um gegenüber vorausgegangenen Herrschern deutliche Distanzierungen zu markieren. Dieses Verfahren war rechtlich und institutionell etabliert, ist als Quellenterminus der Antike bekannt und von der Forschung mittlerweile bearbeitet. Dies gilt aber nicht für andere Epochen. Nur vereinzelt liegen Untersuchungen vor, die die Auslöschung von Erinnerungen nach dem Ende der Antike behandeln, so etwa von Günther Lottes zur Französischen Revolution oder im Zusammenhang mit den Forschungen zu den Erinnerungsmonumenten, die vereinzelt auch ex negativo untersucht werden, also als Fehlen oder als Verlust von Erinnerung.

Die vorliegende Monographie von Gerald Schwedler, die auf seiner Zürcher Habilitationsschrift beruht, behandelt erstmals umfassend die intentionale Auslöschung von Gedächtnis im Frühen Mittelalter und stellt sie als politisch motiviertes Verfahren dar. Indes fehlte es in dieser Epoche an einer hinreichend dominierenden und unangefochtenen Macht, die in der Lage gewesen wäre, erfolgreich Erinnerung zu gestalten. Die römisch-rechtlich begründete Sanktionierung des Widerstandes gegen den Herrscher, welches als crimen laesae maiestatis bezeichnet wird, hatte nur noch schwache Spuren im Frühen Mittelalter. Die Erinnerungsträger, die Gerald Schwedler untersucht, sind vornehmlich erzählende Quellen, insbesondere die Historiae von Martin von Tours und von Fredegar. Die ansonsten für das Frühe Mittelalter zu konstatierende Quellenarmut sind an sich schon ein Moment des Vergessens, was aber als nicht-intentional bezeichnet werden muss. Wichtiger und als Untersuchungsgegenstand vom Autor behandelt, sind die in den Quellen dargestellten Verfahren, die das Gedächtnis an einzelne Herrscher auslöschen, verschweigen oder verändern sollen, wobei aber paradoxerweise durch diese Erzählungen über diese Verfahren die Erinnerung bewahrt wird. Die Gestaltung von Erinnerung dehnt sich aber über den des politischen Machtkampfes aus und erfasst das Recht, das gegenüber älteren Rechtsschichten abgeschirmt werden soll, und die kirchliche Organisation. Die vorliegende Monographie behandelt den Untersuchungsgegenstand auf einem hohen Reflexionsniveau und bezieht die unterschiedlichen Perspektiven der Gestalter von Erinnerung und der betroffenen Personen und Institutionen ein. Die durch unterschiedliche Quellengattungen – auch von unveröffentlichten Quellen – abgestützten Analysen Schwedlers behandeln auch die Ikonoklasten, deren Zerstörungen Zeichen tilgen, die auch jenseits von Texttraditionen bestanden. Indem Schwedler auch die Ergebnisse von Erinnerungsgestaltungen und deren zeitlich gestufte Etappen von Aktivität und Resultat untersucht, eröffnet er einen Zugang zu den Verfahren, die angewendet wurden. Dass die Untersuchung auf Fallanalysen beruht, ohne dass die zugrundeliegenden Ereignisse ein kausales und narratives Kontinuum bilden, ist der Quellenüberlieferung geschuldet, beruht aber – grundsätzlicher – auch auf den exzeptionellen Eingriffen in die Erinnerung, die ansonsten beständig erhalten werden sollte, um das Aussergewöhnliche umso deutlicher hervortreten zu lassen.

Die vorliegende Monographie verdient allein durch die innovative Leistung grosse Anerkennung. Sie stellt einen Gewinn für die Geschichtswissenschaft dar, weil durch eine theoretisch und methodisch transparent gemachte Analyse ein wichtiger Untersuchungsgegenstand erfasst wird. Eine bedeutende Leistung ist mit diesem Werk erbracht worden, das als Grundlage für Untersuchungen auch für andere Epochen Massstäbe setzt.

Zitierweise:
Schmidt, Hans-Joachim: Rezension zu: Schwedler, Gerald: Vergessen, Verändern, Verschweigen. Damnatio memoriae im frühen Mittelalter (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 9), Wien 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 363-364. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.